Sprachbilder oder Bildsprache?
Herta Müllers mediale Miniaturen
Urs Meyer (Fribourg)
'Kleine Texte' bergen manchmal Qualitäten, die sich erst einer mediengeschichtlichen Be-
trachtung erschließen. Sowohl das häufig gebrauchte Konzept der Intermedialität als auch der
neuere Konkurrenzbegriff der Transmedialität können der Interpretation von 'Kleinen Texten'
zusätzliche und wertvolle Impulse geben.
Die Mehrzahl der Beispiele für eine das Medium Buch überschreitende Literaturästhetik ist
dabei beschreibbar unter Rückgriff auf das etablierte, aber in seiner Verwendung oft limitierte
Konzept der Intermedialität. Es handelt sich bei den bekannten Formen der Intermedialität
nicht selten um wenig spektakuläre Fälle einer Medienüberschreitung, bei der das Ziel-
medium den Rezeptionsprozess dominiert, während die Eigenarten des Ursprungsmediums
soweit in die intermediale Kommunikation integriert werden, dass sie nicht mehr als eigen-
ständige erkennbar sind. Für eine in diesem Sinn restringierte Intermedialität ist die Literatur-
verfilmung das Paradebeispiel. Ihre Betrachtung ist möglich ohne jede Kenntnis des
Ursprungsmediums. Die Umwandlung des Buchtextes in eine filmische Darstellung erfolgt
meist so, dass man noch immer vom Buch auf der einen Seite und vom Film auf der anderen
Seite sprechen kann, vom "Film zum Buch" oder vom "Buch zum Film". Schon Bolter und
Grusin stellten deshalb fest, dass Literaturverfilmungen zwar in der Regel "historically
accurate" seien, dass sie aber dennoch "not contain any overt reference to the novels on which
they are based; they certainly do not acknowledge that they are adaptations" (Bolter/Grusin
2000: 44).
Im Unterschied zu einer auf diese Weise restringierten Intermedialität ist das theoretische
Konzept der Transmedialität so angelegt, dass es eine möglichst polymorphe Vielfalt künst-
lerischer Medienverwendung einzuschließen vermag (vgl. Meyer et al. 2006). Auch Herta
Müllers Buch Die blassen Herren mit den Mokkatassen, von dem hier vornehmlich die Rede
sein soll, lässt sich unter dem Aspekt seiner Medialiät als Kunstwerk betrachten, das neben
den semantischen Grenzen (in seiner Sprachbildlichkeit) auch mediale Grenzen (in seiner
Bildsprachlichkeit) niederreißt und dadurch zu einem transmedialen Kunstwerk wird.
Durch diese transmediale Erweiterung ihrer Miniaturtexte gelingt es Müller, mögliche
Einschränkungen des literarischen Schreibens bereits auf der visuell-graphischen Ebene weit-
gehend zu ignorieren. Negiert werden parallel dazu aber auch auf der motivischen Ebene viele
lebensweltliche Begrenzungen wie die Grenze des Körpers respektive der Nacktheit, die
Grenze der Familie, die Grenze des Dorfes, die Landesgrenze und schließlich die Grenze des
Lebens überhaupt, markiert durch den Tod.
Das erste bildsprachliche Sprachbild aus Die blassen Herren mit den Mokkatassen, das dieses
Vorgehen illustrieren kann, kaschiert zunächst, auf welche Grenzüberschreitung Bild und
Text abzielen. In seiner Bedeutung besonders markiert erscheint dem Leser, der vermutlich
zuerst den Text liest, das metaphorische und neologistisch unverständliche Wort
"Bleibquadrat" (Müller 2005: 9). Erst wenn der Blick auf das textbegleitende Bild schweift,
erkennt der Betrachter ein schemenhaftes weißes in einem roten Rechteck. Ein Rechteck ist
zwar kein Quadrat. Doch liegt die Annahme nahe, dass das gezeichnete rote Rechteck mit
dem im Text erwähnten "Bleibquadrat" etwas zu tun hat. Das "Bleibquadrat" wäre dann der
Pass, der über Gehen oder Bleiben entscheidet oder der Grenzbezirk, der nur mit Pass in der
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Hand zu überschreiten ist. Eine der beiden Figuren auf dem Bild vollzieht einen Drahtseilakt
auf dem dünnen Rand eines Gebildes, das man als Mokkatasse identifizieren könnte, schein-
bar um den Pass zu holen, und wohl auch im Versuch, nicht in die Kaffeetasse hineinzufallen.
Abb. 1 (Müller 2005: 9)
Die Grenzgänger und Grenzgängerinnen in Müllers Die blassen Herren mit den Mokkatassen
sind manchmal als kleine, schattenhafte Figuren kaum erkennbar, oft sogar nur durch ihre
Gepäckstücke repräsentiert. Das häufig wiederkehrende Wort "Koffer" (Müller 2005: z. B.
88, 94, 96, 100) findet sich dabei aufs Äußerste verdichtet in seiner Bedeutung. Die bloße
Nennung dieser Vokabel scheint hier schon hinreichendes Fanal, hatte Müllers rumänischer
Verlag das Zensurwesen doch einmal so weit ins Groteske getrieben, das vermeintlich be-
drohliche Wort "Koffer" aus einem ihrer Texte zu streichen (Müller 2003: 31). In Die blassen
Herren mit den Mokkatassen wird das Tabu- zum Reizwort verkehrt, das unterschwellig die
Flucht aus einer unwirtlichen Umgebung chiffriert. Die Grenze, der Grenzgänger und der
Koffer als Zeichen der Grenzüberschreitung verweisen dabei nur noch indirekt auf die von
Herta Müller durchlebte Diktatur Ceausescus. Im autobiographischen Roman Herztier fand
sich im Koffer noch jener Kleidergürtel, mit dem sich Lola, eine der Kommilitoninnen der
Ich-Erzählerin, schließlich erhängt. Wie die Eisenbahn, das Boot, die Straße oder der
Schleichweg ist der Koffer in Herta Müllers Werken Inbegriff der Flucht. In Die blassen
Herren mit den Mokkatassen verlieren sich diese Konnotationen jedoch in einer umfassenden
metaphorischen Bildlichkeit. Die Grenzüberschreitung wird vom realen Problem zur
poetischen Schreibweise erhoben, die den Bruch mit möglichst mannigfaltigen Konventionen
des literarischen Ausdrucks anstrebt. Unter diesen Konventionen vielleicht am substan-
tiellsten ist jene der (literarischen) Gattungslehre, die sich vorab in der Abgrenzung zwischen
lyrischen, dramatischen und prosaischen Schreibstilen manifestiert. "Und es gibt" schreibt
Müller in Der König verneigt sich und tötet, "obwohl es so oft behauptet wird, zwischen
Lyrik und Prosa diesbezüglich keinen Unterschied. Prosa hat die gleiche Dichte zu halten,
auch wenn sie es, weil auf langer Strecke, anders bewerkstelligen muß." (2003: 20).
Jürgen Wertheimer spricht deshalb mit Blick auf Müllers Miniaturtexte von "Gedichtbildern"
(Wertheimer 2002: 82), Herta Müller selbst von "Gedicht-Collagen" oder "Kürzestgeschich-
ten" (Riccabona 2003: 178). Doch liegt die Vermutung nahe, dass überhaupt kein Begriff aus
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der vertrauten Welt der 'Kleinen Texte' den Textgebilden Müllers wirklich gerecht werden
kann. Statt von "Gedichtbildern" könnte man genauso gut von "Prosagedichten" sprechen,
fehlt Müllers Texten doch das wichtigste Kennzeichen eines lyrischen Gedichts, die Versseg-
mentierung. Aber auch einer in diesem Sinne eindeutigen Zuordnung widersetzen sich die
Textgebilde Müllers, da sie auf der anderen Seite wieder mit Reimen durchzogen und lyrisch
im strengen Sinn der Einzelrede sind. Am Ende hält sogar überhaupt nur der Reim in all
seinen Formen die zerstückelten Sätze noch zusammen.
Während dem Reim auf diese Weise eine wichtige gliedernde Funktion zukommt, fehlen
wiederum die Satzzeichen, als die konventionellen Grenzsteine zwischen Sätzen und Teilsät-
zen, gänzlich. Die Worte werden, obwohl die Autorin die Regeln der Syntax befolgt, aneinan-
dergereiht, ohne optisch durch Satzzeichen voneinander abgetrennt zu sein. Die Leserin
schießt beim Lesen der Worte entsprechend oft über das Ziel hinaus, sie liest über die nicht
mehr markierten Satzgrenzen hinweg. In Der Teufel sitzt im Spiegel begründet Müller
(1991: 71) die Absenz der Satzzeichen in ihren Texten wie folgt:
Sowohl das Fragezeichen als auch das Ausrufzeichen haben die Absicht hervorzuheben, Unter-
scheidungen zu treffen. Sind die Sätze gefunden, wie sie sich selber sehn, kommen diese Zei-
chen nicht vor.
Bei der poetischen Suche nach Sätzen, "wie sie sich selber sehen", stören Satzzeichen nur, sie
müssen in der Sicht Müllers als unstatthafte Eingriffe in die Satzhoheit verstanden werden.
Sie sollen deshalb bei jedem Neulesen durch die Leser kreativ anders gesetzt und variiert wer-
den. Anders als bei Stefan George ist das Fehlen der Satzzeichen bei Müller nicht Ausdruck
esoterisch-künstlerischer Abweichung vom Gewohnten, gerichtet an die Eingeweihten
erhabener Sprachkunst, sondern Appell an den Leser, aus der Sicht Müllers wohl noch demo-
kratischer: an die zufälligen Sätze selbst, im gegebenen Augenblick mit den befreiten Worten
kreativ umzugehen. Dabei wirken die Sätze und Satzteile semantisch so zerrissen, dass jeder
Satz für sich genommen seine Wirksamkeit zur Entfaltung bringen kann. Es sind 'Satzbilder'
oder 'Minimalbilder' im Sinne von Müllers Diktum "Auch das Schreiben vollzieht sich in
Bildern" (ebd.: 83).
Nicht nur Satzzeichen, auch Kapitelgrenzen, mehr noch: die Seitenzahlen, fehlen in Müllers
Schein-Buch, jene Orientierungshilfen also, die dem Leser den Fortschritt seiner Lektüre
anzeigen. Es ist ein Wort aus Walter Benjamins "Einbahnstraße" (1972: 118), das den Sinn
dieser Maßnahmen deuten könnte:
Als Lebensuhr, auf der die Sekunden nur so dahineilen, hängt über den Romanfiguren die Sei-
tenzahl. Welcher Leser hätte nicht schon einmal flüchtig, geängstigt zu ihr aufgeblickt?
Die Seitenzahl ist keine beliebige Zahl, sie zählt auch und nicht zuletzt die Zeit, insbesondere
die Erzählzeit, und übernimmt damit die Funktion einer Uhr beim Lesen. Fehlt sie, verliert
der Leser die Orientierung, befindet er sich in der Mitte des Buches, am Anfang oder am
Ende?
Mittels intertextueller Selbstzitate verweist Müller in ihren verdichteten Collagen fortwährend
auf eigene frühere Bücher. Die Abschottung eines Textes als Einzelwerk ist damit kaum noch
sinnvoll. Ohne Rückbezug auf frühere Texte bleiben die Collagen schwer- bis unverständlich.
In Die blassen Herren mit den Mokkatassen werden zum Beispiel immer wieder und schein-
bar beiläufig Tiere erwähnt, die, sofern Müllers Chiffrensprache über die Werkgrenze hinaus
betrachtet wird, in Wahrheit Bedeutung tragen. Der "Fasan" (Müller 2005: 18, 24, 29, 35
u. ö.) etwa, der sich durch die Collagen bewegt, verweist auf den Titel von Herta Müllers
Buch Der Mensch ist ein großer Fasan auf der Welt. Dieser wiederum zitiert ein rumänisches
Sprichwort. Der Mensch als flügellahmer Fasan, das bedeutet dort: der Mensch in seiner
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Unbeholfenheit und Ungeschicklichkeit. Eine Passage aus Müllers Essay Wie Erfundenes sich
im Rückblick wahrnimmt (1991: 35) sucht diese überbordende Intertextualität zu ergründen:
Denn alle Sätze sind ohnehin ein einziger Satz, sowie alle Texte ein einziger Satz sind, und alle
Bücher. Ja, auch wenn man über Jahre hin verschiedene Bücher schreibt, schreibt man immer an
einem einzigen Satz.
Die konkrete Materialität der Schrift und die Sichtbarmachung der Schriftgrenzen (die in
Müllers Wort-Collagen als Schnittstellen im eigentlichen Wortsinne zu bezeichnen wären),
sind den dadaistischen Collagen eines Tristan Tzara oder Kurt Schwitters dennoch nur teil-
weise ähnlich. Während diese stärker in die Richtung einer Unsinnspoesie tendieren, bergen
jene oft ein tiefgründiges semantisches Potential, das nach einer ‚Entschlüsselung’ durch den
Leser drängt. Ähnlich wie der Bezug zur dadaistischen Collage scheint auch der Bezug auf
das kriminelle Alltags-Medium des Erpresserbriefs eher oberflächlicher Natur. Müller ver-
knüpft ihre Wortschnipsel zwar mit zusätzlichen visuellen (meist Rand-)Elementen, für sich
genommen sind die einzelnen Schnipsel aber ordentlich zu Textzeilen gefügt. Genau diese
Regelmäßigkeit ähnelt jener der säuberlich aneinander gereihten Erpresserzeilen, die plakativ,
gut lesbar und möglichst leicht verständlich auf das weiße Blatt Papier geklebt sind. Es ist
aber nicht die leichte Verständlichkeit, sondern nur das mediale Verfahren, das Müller vom
Erpresserbrief übernimmt. In Analogie zum Erpresser nämlich, der sich dieser Form bedient,
um sich zu anonymisieren, entzieht sich auch Müllers Ich-Erzählerin dem Zugriff der Leser.
Als massenmediale Abfallprodukte entfernen sich die Worte von ihrer individuellen Schöp-
ferin und müssen nun, ganz wie es Müllers Poetik vorsieht, für sich selbst sprechen. Auch im
Erpresserbrief finden wir dabei für gewöhnlich Worte mit hoher eigener Signalkraft: "20'000
Euro oder ihr Mann ist tot!" Der Erpresserbrief ist wie Müllers Wortcollagen augenfällig.
Jedes Wort bekommt optisch den Nachdruck, den es verdient. Anders beim Erpresserbrief
oder auch beim Kommunikations-Medium studentischer Wohngemeinschaften, den Kühl-
schrankpoesie-Magneten, bei denen die Wortgrenzen vorgegeben sind, braucht sich Müller in
ihren neodadaistischen Collagen noch nicht einmal an die Grenzen der Morpheme zu halten.
Sie rekombiniert ihre Wörter vielmehr gezielt gerade aus besonders beliebig wirkenden
Einzelbuchstaben, Buchstabenfolgen und Wortfragmenten, was ein prinzipiell unbeschränktes
Anwendungsfeld für neologische Wortbildungen eröffnet – vom "Antilopenschuh" (Müller
2005: 34) über den "Lachwind" (ebd.: 33) bis hin zum "Schleichengel", der sich aus "Sch",
"leichen" und "gel" sonderbar zusammensetzt (ebd.: 37).
Auch eine weitere Einschränkung der Schrift im Buch nimmt Müller nicht in Kauf: Ihre Farb-
losigkeit. Literarisches Schreiben besonders im Massenprintmedium Buch, das bedeutet
Schreiben mit schwarzen Lettern auf weißem Papier. Die Vorherrschaft des Schwarzweiß-
drucks basiert auf einer pragmatische Wahl: schwarz kontrastiert mit weiß am lesbarsten. In
Zeitschriften, besonders im Magazin "Der Spiegel", und in den Werbeinseraten, denen Müller
ihre objets trouvés entnimmt, sieht Schrift anders aus: farbig oder farbig unterlegt.
Dabei eröffnet sich sogar ein weiterer hypermedialer Bezug zur Mail-Art, die als oftmals
gerade durch Postzensur provozierte Kunstbewegung auch in diktatorischen Staaten Bedeu-
tung erlangt hat. Die Kunstform der Mail-Art imitiert dazu unter anderem auch die Schrift-
grafik von Zeitschriften. Die kanadische Gruppierung General Idea zum Beispiel ahmte mit
ihrer Zeitschrift FILE die Typographie der Zeitschrift LIFE nach, gefolgt von den "Bay Area
Dadaists" um Anna Banana und Bill Gaglione aus San Francisco, deren Zeitschrift VILE
ihrerseits auf FILE und LIFE anspielte. Die Mail-Art diente wie der Kassiber besonders in
den Diktaturen Osteuropas der codierten Verständigung über die Möglichkeiten des poli-
tischen Widerstands, in Jugoslawien, in der DDR, in Polen oder eben auch in Rumänien.
Auch dieser Mail-Art-Untergrundbewegung der 1980er kommt mit Blick auf Müllers Post-
karten-Texte wohl eine gewisse Vorreiter-Rolle zu (Groh 1972; Joachim Kallinich et al.
1999). In Die blassen Herren mit den Mokkatassen erscheinen die einzelnen Bild-Text-
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Miniaturen durch die fehlende Paginierung und die blass-beigen Umrandungen ebenfalls wie
Post- oder Ansichtskarten. Solche präsentierte die Autorin schon frührer unter dem Titel Der
Wächter nimmt seinen Kamm: vom Weggehen und Ausscheren 1993 ganz explizit als lose
Blätter in einer Kassette. Das Kartenformat mit Rand markiert für die Autorin dabei auch eine
Grenze des Sprachverständnisses und der sprachlichen Transparenz überhaupt: "Es sind nur
Viertel- und Halbseiten zu durchschauen, und auch diese jedes Mal, wenn ich es versuche,
anders", bemerkt Müller (1999: 12) in ihrem Essay Der fremde Blick.
Gleichwohl sucht der Leser in den Farbtupfern vergeblich nach eindeutiger Sinngebung. Die
willkürliche Streuung der Farben verweigert sich vielmehr gerade jener möglichen Semantik,
wie sie Farben oft zugesprochen wird. In Reisende auf einem Bein konstatiert Müller
(1989: 154) lakonisch:
Als ich klein war, sagte die andere Irene mit ihrer tiefen Stimme, hab ich immer gehört, daß die
Liebe rot ist, die Treue blau und die Eifersucht gelb. Damals hab ich die Welt verstanden.
Diese Sätze implizieren, dass der Welt (der Farben), wenn sie durch die Augen der weniger
Naiven betrachtet wird, ihre Verständlichkeit abhanden kommt. Deshalb folgt auch die Ver-
teilung der Farben auf Müllers Text-Teppiche einem scheinbar nur noch abstrakten Muster,
einer allgemeinen Farbenfröhlichkeit vielleicht, die den dominierenden Trüb- und Tiefsinn
der Texte überschminkt. Eine geradezu linguistische 'Farbenlehre' andeutend, äußerte sich
Herta Müller (1997) einmal in einem Interview auf diese Weise: "Die Sprache ist für mich
eine geruch-, geschmack- und farblose Sache". Ihre Collagen geben demnach der 'farblosen'
Sprache ihre Farbe und damit ihre verlorene Sinnlichkeit zurück. Die Farbmuster in Müllers
Collagen bilden eine sinnlich-poetische Oberflächenstruktur, die entfernt noch an die Farben-
pracht der Zeitschriften erinnert, denen die Wortschnipsel entnommen sind. Ähnlich wie beim
medialen Unding einer "holzpostkarte" (Beuys 1974), das der neben Marcel Duchamps
wichtigste Urvater künstlerischer Transmedialität, Joseph Beuys, kreierte, tritt in Müllers
Buchkarten die Materialität der Textproduktion auch jenseits der Farbgebung vielschichtig
hervor. Häufig ist etwa die Rede von stofflichen Rasterungen und Musterungen, die dem Text
– über die Farbmuster hinaus – geradezu ironisch äußere Form und Materialität verleihen: das
"Millimeterpapier", (Müller 1999: 13), der "Lineal" (Müller 2005: 88), der "Zebrastreif"
(ebd.: 88), das "Rippenmuster einer Jacke" (ebd.: 7), die "graukarierte Hündin" (ebd.: 102)
neben dem "großkarierten Schal" (ebd.: 39), der "Pepitasamt" (ebd.: 27) und das "Pepita"
(ebd.: 30), die Lippen, die "blau geri
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" sind (ebd.: 31), das "Geripp" selbst (ebd.: 72) oder
die "Blutflecken" (ebd.: 76). In ihrer Musterung "kariert" sind nicht nur Schal, sondern auch
Koffer (ebd.: 15) oder Tische (ebd.: 47).
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Abb. 2 (Müller 2005: 27)
Die auf bildstruktureller und semantischer Ebene erkennbaren Farb- und Stoffmuster korres-
pondieren dabei eng mit dem schon erwähnten engmaschigen Netz der Reime. Auch diese
Reime wirken zunächst nur oberflächlich verknüpft. Sie tragen wenig zum Verständnis der
Wortspiele bei. Der Leser fällt durch die ihm Sicherheit vortäuschenden Farb- und Reim-
Netze vielmehr direkt in den bodenlosen Abgrund der Interpretationsfreiheit und Interpreta-
tionsnot. So könnte eine Lieblingshassfigur Herta Müllers, die Schachfigur des Königs, die
immer wieder auftaucht, als poetische Chiffre für den realen Diktator stehen, vielleicht sogar
eine intertextuelle Beziehung zur diktaturkritischen "Schachnovelle" Stefan Zweigs nahe
legen. Sie kann aber auch eine ganz andere Bedeutung respektive Funktion haben.
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Abb. 3 (Müller 2005: 47)
Ähnlich oberflächlich wie die Musterung von Farben und Reimen wirkt auch die Angabe von
Zahlen in Müllers Texten. Immer wieder treffen wir – wie in den Filmen von Michael Nyman
("Drowning by Numbers" 1988 u. a.) – auf scheinbar absurde Zählungen, mittels derer die
üppigen Sprachbilder in mathematische Formelhaftigkeit überführt werden. Die nicht mehr
geglaubte Erzählbarkeit der Welt weicht sinnlosen Zählungen, sinnlosen Messungen, die dem
Leser am Ende nur ihrerseits zeigen, dass er auf nichts wirklich zählen kann: Es wird ein Or-
den poliert mit "20 GRAMM durchwachsnem Speck" (Müller 2005: 86), im Schrank wohnt
"dreimal der Mond" (ebd.: 92), es gibt "siebenerlei Staub" (ebd.: 18), der Speichelfaden ist
"dreißig cm" (ebd.: 39) lang, eine Hündin verirrt sich "147 Kilometer" (ebd.: 102) oder ein
Echo "wiegt beim Anfassen an die zwanzig Kilo" (ebd.: 12).
Auch die Bilder, die Müller ihren Texten zu Seite stellt, sind in ihrer Bezüglichkeit vielfach
gestört. Manche Bilder sind nur Widerschein der Worte, sie lassen den Übergang vom Text
zum Bild als grenzenlos erscheinen. Manche Bilder hingegen sind Gegenpart der Worte.
Kaum je haben die Bilder, wie Jürgen Wertheimer behaup